Für „Der Widerspruch – Ein Lehrstück“ ist viel entstanden, auch dieses Gedicht. Einmal als Aufnahme, einmal blank als Text.
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Dieser Wochen oder Monate, dieser Jahre
Stossen Mal ums Mal
Zeilen des alten Brecht-Gedichts
Aus der Flut meines Denkens nach oben
Und unterbrechen, was ist.
An die Nachgeborenen.
Er spricht darin
Neunzehnhunderneununddreißig
An all jene, die den großen Kriegen folgend
Leben werden und zurückschau’n.
Also auch mich, die ich
Den Text, vermutlich, wer weiß sowas,
Mit dreizehn Jahren erstmals
In Händen und dann im Hirn
Hielt.
Traurig spricht er und mahnt.
Zur Vorsicht und bittet
Um Nachsicht.
Und beichtet die Schwäche
Den Kindern, die Richterinnen einst
Sein werden. So auch mir.
Dachte ich. Bis.
Bis.
Bis zum Begreifen: Ich werde keine
Nachgeborene gewesen sein.
Wirklich, ich werde in finsteren Zeiten
Gelebt haben. Dereinst. Wenn in
Ein paar Jahrzehnten, wenn in der Mitte
Meiner Jahre aus milden Wintern
Aus kleinen Stürmen und wilden Winden
Eine Schrecken wird, der sich auf alles legt
Wie feiner Staub auf stille Hände.
Und denke ich daran, dann wird es kalt
Im Nacken.
Dann lege ich
Die Ohren an, schließe die Finger,
Schließe die Zähne.
Mein Blick
Ruht
Unverwandt
Auf der Luft
Zwischen uns.
Und ich lausche. Ganz erstarrt.
Und hör mein eig’nes Grauen
Aus jeder Stimme sprechen.
Und hör Milliarden Kassandras
Wahres weissagen.
Weisschreien gegen ihren Willen.
Sich selbst nicht glauben
Wollend. Könnend.
Und doch legt sich der Staub
Auf jedes Wort. Um jeden Satz.
Jedes Gespräch über Bäume
Verschweigt den großen Herbst. Und jedes
Gespräch über Menschen
Verschweigt, wie wir öfter als die Schuhe
Die Länder wechselnd durch dieses
Einundzwanzigste Jahrhundert
Gehen werden. Laufen werden.
Rennen werden. Fliehen. Nie
Die Hände so lange ruhen lassend,
Dass der Staub sich auf sie legt.
Auch solche, die heute das Fliehen
Zum Makel der Fliehenden erklären
Und Grenzen ziehen, auf Karten, auf Land, auf dem Meer
Aus Draht, aus Stein, aus Booten.
Aus Gewehrmündungen.
Unentwegt nach Außen starrend.
Auch solche, die den Klimawandel
Abreden
Die Krise, dann die Katastrophe,
Planen dafür.
Füllen die Keller und
Legen mit sanften Fingern Kugel um Kugel
Ins Magazin jedes Revolvers, Karabiners,
Jeder Flinte, AK, Pistole. Jedes Gewehrs.
Diese Sprache, die die Welt aufteilt. In uns.
Und nicht uns.
Was
Verachtung will und Misstrauen
Und den Menschen dem Menschen
Zur Wölfin macht
Legt zwischen uns
Eine Waffe.
Was die Welt so aufteilt, sagt:
Es gibt nur zwei Orte.
Am Abzug.
Oder vor dem Lauf.
Ich weigere mich.
Ich weigere mich.
Wenn die Tage kommen, wenn wir alle.
Mehr Hilfe brauchen als je…
Und jeden Tag. Jeden Tag. Jeden Tag.
Von heute bis…
Will ich das Bisschen. Werde
Ich tun, versuchen, scheitern.
Die Kerze anstecken, mit kleiner Flamme,
Grad hell genug, um uns in unseren
Augen zu sehen und unsere Stimme zu hören
In jedem Schrei.
Und weiter tun. Wenn mein Zorn, meine Wut
Mich heiser machen und verzerren,
Mein Fluchen die Kerze löscht.
Versuchen zu schützen.
Zu stützen, schirmen, behüten.
Uns vor uns. Mich vor mir.
Nachgeborene: Euch vor uns.
Wirklich, ich lebe. Wirklich, wir leben.
Also: an die Nachgeborenen.
Ihr, wenn es euch denn geben wird,
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht,
Gedenkt unserer mit Nachsicht. Oder mit Hass.
Mir egal. Ehrlich gesagt.
Hoffe? Weiß ich nicht. Ob es
Euch geben wird.
Nele Solf